„Herr Foerster, waren Sie schon bei der Darmspiegelung?“, fragte mich meine damalige Hausärztin. Ich schüttelte den Kopf. „Gehen Sie mal hin, das ist wichtig“, ermahnte mich Frau Mester. Kaum hatte ich mit leicht schlechtem Gewissen die Praxis verlassen, kamen mir die vielen Dinge in den Sinn, die ich noch zu erledigen hatte – überwiegend Berufliches. Da gab es dieses Projekt oder jenes. Außerdem war da eine gewisse Abneigung vor der Untersuchung: die aufwändige Darmentleerung vorab, ein kalter Raum, Vollnarkose – und dann die Angst vor dem Befund. Schließlich drängte mich meine Partnerin Sabine zum Endoskopischen. Sie war bei mir, als ich aus der Narkose erwachte und nüchtern das Ergebnis mitgeteilt bekam: Darmkrebs.
Am Ende hatte ich Glück im Unglück. Wenige Tage später wurde ich operiert. Professor Achim Heintz, Chefarzt am Mainzer Marienhaus-Klinikum, rette mir das Leben. Wäre ich verstorben, wären zwei Umstände für mein Ableben ursächlich gewesen: der Krebs und die „Aufschieberitis“, mein Aufschiebeverhalten, das in Fachkreisen mit dem Begriff „Prokrastination“ beschrieben ist.
In der Tat sind es im Medizinischen überwiegend Männer, die allerlei Ausreden finden, um sich notwendigen Untersuchungen zu entziehen. Das Ausreden-Paket meiner Geschlechtsgenossen geht in meine Richtung: Berufliches wird gerne vorgeschoben, hinzu kommen die Angst vor dem medizinischen Procedere und der Diagnose. Ein Bericht in der „Wirtschaftswoche“ vom Juni 2016 beschreibt genau diesen Zustand. Titel: „Warum Männer Angst vorm Arztbesuch haben“. Die Autoren nahmen Bezug auf eine damals aktuelle US-Studie. Sie schreiben: „Meinungsforscher wollten im Auftrag der Orlando-Health-Kliniken von Teilnehmern wissen, welche Aussagen für sie gegen die Vereinbarung eines jährlichen Hausarzttermins sprechen. Vor allem Männer zwischen 18 und 44 Jahren stimmten der Aussage zu, sie seien zu beschäftigt. Viele äußerten auch Angst vor einer schlimmen Diagnose und wollten keine unangenehmen Untersuchungen, etwa an der Prostata, über sich ergehen lassen.
Die Keine-Zeit-Ausrede sei „unentschuldbar“, erklärte der US-Urologe Jamin Brahmbhatt dazu. Männer könnten pro Woche mehrere Stunden mit Sport-Gucken verbringen, da müssten sie auch für eine 90-minütige Untersuchung Zeit aufbringen können, findet er.“ Recht hat der Mann. Doch es kommt noch dicker. Die Aufschieberitis scheint als eine Art verdrängte Volkskrankheit ihr Unwesen zu treiben. Hierzu hat das renommierte SINUS-Institut (Heidelberg, Berlin) im März 2018 eine Studie im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) veröffentlicht.
8 von 10 Deutschen leiden unter ihrer Aufschieberitis
Das Ergebnis ist bemerkenswert: Acht von zehn Deutschen (82 Prozent) haben schon finanzielle, berufliche oder gesundheitliche Nachteile erlitten, weil sie wichtige Dinge auf die lange Bank geschoben haben,
geben die Sozialforscher an. Dabei seien es ein Drittel der Deutschen, die sich als Aufschieber bezeichnen.
Die Deutschen wissen selbst um ihre mangelnde Disziplin: Rund ein Drittel der Befragten, so die SINUS-Forscher, bezeichnete sich selber als Aufschieber. Immerhin: Von dieser Gruppe halten es 73 Prozent für
notwendig, an ihrem Verhalten etwas zu ändern.
Der häufigste Grund für das permanente Aufschieben ist fehlende Motivation: 54 Prozent der Personen, die wichtige Dinge auf die lange Bank schieben, sagen, sie können sich einfach nicht aufraffen. Für 39
Prozent ist die Auseinandersetzung mit den eigentlich wichtigen Aufgaben schlicht zu anstrengend.
Auch wollte jeder Dritte beispielsweise mehr Sport treiben, setzte den Plan aber erst auf den letzten Drücker um oder ließ es ganz bleiben. Ungefähr jeder Vierte verschob medizinische Vorsorgeuntersuchungen
oder schaffte es nicht, weniger Genussmittel wie Alkohol und Zigaretten zu konsumieren. Ähnlich viele Befragte waren nachlässig mit ihren Finanzen: 27 Prozent fiel es schwer, sich um ihre Geldanlage zu
kümmern oder Geld für das Alter zurückzulegen (24 Prozent). Aspekte der Untersuchung, auf der GDV als Auftraggeber großen Wert gelegt hatte.
Die Ursachen von Prokrastination können vielfältig sein und von Person zu Person unterschiedlich. Einige der häufigsten Ursachen sind:
- Mangelnde Motivation: Fehlende intrinsische Motivation oder Interesse an einer bestimmten Aufgabe oder an einem Sachverhalt kann dazu führen, dass man das Thema vor sich herschiebt.
- Angst vor Versagen: Die Angst, dass man eine Aufgabe nicht erfolgreich abschließen könnte, kann dazu führen, dass man sie aufschiebt, um sich vor potenziellem Misserfolg zu schützen.
- Perfektionismus: Der Wunsch nach Perfektion kann dazu führen, dass Menschen Aufgaben aufschieben, da sie sich Sorgen machen, dass ihre Arbeit nicht den eigenen hohen Standards entspricht.
- Überforderung: Das Gefühl, von einer Aufgabe überwältigt zu sein oder nicht zu wissen, wo man anfangen soll, kann dazu führen, dass man sie aufschiebt.
- Schlechtes Zeitmanagement: Mangelndes Zeitmanagement kann dazu führen, dass Aufgaben bis zum letzten Moment aufgeschoben werden, was Stress und Prokrastination fördert.
- Ablenkungen: Eine Umgebung mit vielen Ablenkungen, sei es durch soziale Medien, das Internet oder andere Aktivitäten, kann dazu führen, dass man Aufgaben aufschiebt.
- Mangelndes Selbstvertrauen: Ein geringes Selbstvertrauen oder das Gefühl, dass man nicht in der Lage ist, eine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen, kann zur Prokrastination beitragen.
- Fehlende klare Ziele: Wenn Ziele nicht klar definiert sind, kann dies zu Unsicherheit führen und dazu verleiten, Aufgaben aufzuschieben.
- Aufschiebeverhalten als Gewohnheit: Wenn Prokrastination zu einer eingefahrenen Gewohnheit wird, kann es schwierig sein, aus diesem Muster auszubrechen.
- Ungünstige emotionale Zustände: Stress, Langeweile, Frustration oder andere emotionale Zustände können dazu führen, dass man Aufgaben aufschiebt, um kurzfristige Belastungen zu vermeiden.
Mal ehrlich, welches Motiv trifft bei Ihnen zu, wenn Sie ein wichtiges Thema aufschieben?
Wie man mit Prokrastination umgeht, ja welche Möglichkeiten es zur Vermeidung der Aufschieberitis gibt, darum soll es im zweiten Teil dieser kleinen Betrachtung gehen. Seien Sie gespannt!
Autor:
Udo Foerster